Judika

Hier die Predigt unseres Urlauberseelsorgers Pfr. i.R. Helwig Bröckelmann:

Predigt Hiob 19,19-27

Auf dem Weg durch die Passionszeit haben wir den 5. Sonntag erreicht, Judica, so benannt nach dem ersten (lateinischen) Wort des diesem Tag zugeordneten Psalms 43: „Schaffe mir Recht“. Hier betet ein Verfolgter, ein zu Unrecht geschlagener, ein ins Elend gestürzter, verlassener Mensch. In diesem Psalm, könnte man meinen, wird die Stimme eines Menschen laut, dem in unserer Bibel ein ganzes Buch gewidmet ist: „Es war ein Mann im Lande Uz, der hieß Hiob“. Wie ein Märchen im fernen Arabien beginnt seine Geschichte, wie ein Märchen endet sie. Doch zwischen Aufstieg und Niedergang und einem „Ende gut, alles gut“ hat ein namenloser und doch den großen Propheten ebenbürtiger Dichter eine Erzählung eingefügt, ein Seelendrama, das die ganze Skala menschlichen Empfindens abstürzen und wieder aufbrausen lässt.
Ein kleiner Abschnitt daraus ist der Predigttext des heutigen Sonntags: Hiob, Kap. 19,19-27:

Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich liebhatte, haben sich gegen mich gewandt. Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? Ach, dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach, dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift., mit einem eisernen Griffel in Blei geschrieben, zu ewigem Gedächtnis in einen Fels gehauen! Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.

Welch ein Aufschrei gegen die, die ihm – dem Verlassenen, Entehrten, Todkranken – immer noch wehtun. Verflucht? Warum? Wer? Wozu? Sind das die Worte, die unbeantworteten Fragen, die mit eisernem Griffel in die Menschheitsgeschichte eingeschrieben sind – unauslöschlich, immer neu – und die sich wieder und wieder stellen in den Schicksalen der einzelnen, in den millionenfachen Einbrüchen und Abbrüchen ihrer Lebensläufe, auch meiner eigenen Lebenszeit, wenn „die Haut so zerschlagen und das Fleisch dahingeschwunden ist“, jeder Hoffnung beraubt?
Und das Schlimmste: Zu dem der Verzweifelte schreit – sein Gott – ist mittendrin unter den Verfolgern, den Menschenfressern, den Totschlägern. Gott selbst auf der Anklagebank. Das geht zu weit!
Die im Hiobbuch auftretenden Freunde, die Hiob trösten wollen, verstehen seine Klage, doch diese ungeheure Anklage lassen sie nicht gelten. Die Verteidiger des lieben Gottes mit den frommen Worten und den kalten Augen erreichen seine tief erschütterte Seele nicht. „Was ist das für ein Gott, der mich geschlagen und euch verschont hat?“ schreit er.

Der Bruch zwischen Gott und Mensch scheint besiegelt. Die Fronten sind klar, der Ankläger hat gesprochen. Doch wer ist in diesem Prozess der Richter, wer schafft wem Recht? Hiob ringt um eine Antwort nach dem Warum seines Leids, er hadert mit einem Gott, der ihm bislang immer als der Barmherzige, Gütige und Geber aller guten Gaben über seinem so lange behüteten Leben erschienen ist, dem er vertraut hat, dessen Weisungen er gefolgt ist. „Warum verfolgst du mich und wirst nicht satt von meinem Fleisch?“ Aus der Klage wird die Anklage, wird ein letztes Aufbäumen und Ringen. Was kann denn ein Mensch, der alles verloren hat, noch glauben? In diesem letzten Gefecht geht es dann auch nicht mehr um Glück oder Pflicht, um das Gelingen unseres Lebenswerks, sondern nur um den Glauben.

Hiob gewinnt diese letzte Schlacht nicht. Als zutiefst Erschütterter muss er sich beugen bis auf den Boden – um voller Staunen zu entdecken, dass er trägt, dass es ein Vertrauen gibt, das sich niemand selbst erschaffen oder erhalten kann, das hält, das trägt – ja in den Tod hinein, in die Auferstehung hinüber.

Da bricht es aus ihm heraus: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt! Wie ein Vorausschauen auf das Geheimnis von Golgatha erscheint es uns: Der verlassene, leidende, sterbende Jesus ist zum Sieg der Sache Gottes geworden. Und da, wo alles am Ende scheint – unterm Kreuz, wie auf dem nackten Boden des Dreckhaufens, auf dem Hiob liegt, ist der Glaube zur letztgültigen Antwort geworden. Die Hand, die soeben noch den fremden, unverstehbaren Gott wegstoßen will, hält ihn fest – oder auch – wird festgehalten.

Nicht die strahlenden Glaubenshelden, nur die tief Erschütterten, die Zweifelnden und Verzweifelten können beten: „ich weiß, dass mein Erlöser lebet.“

Judica me – schaffe mir Recht. Auch das erfährt Hiob. Am Ende des Buches sieht Gott die Freunde Hiobs, die sich mit ihrer Frömmigkeit und Weisheit zu den Verteidigern Gottes berufen fühlen. Er bedarf ihrer nicht. „Du hast recht geredet, Hiob, deine Klagen und Anklagen, dein zorniges Geschrei gegen mich, es ist die dunkle Seite des Glaubens, es ist die Not des Glaubens. Nicht aus seiner so oft gepriesenen Stärke heraus, sondern in seiner Schwachheit wird er mächtig, denn nur so ist er   Gottes unverfügbares, wunderliches Geschenk: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“

Ich stelle mir vor, dass der berühmte Georg Friedrich Händel in seinem wohl bedeutendsten Werk, dem „Messias“ eine ähnliche Glaubenserfahrung in eine herrliche Musik gegossen hat. Halbwegs wiedererstanden nach schwerem Schlaganfall mit den strapaziösen Kuren in den heißen Bädern Aachens überfällt den erschöpften, ausgebrannten Musiker das Manuskript eines kleinen Poeten, der sich Hoffnung macht, der große Händel möge sich seines „Messias“ bedienen. Er legt es unwillig, ungelesen zur Seite. Er kann nicht, er will nicht! Und dann nimmt er es doch zur Hand. Und beim ersten flüchtigen Blättern plötzlich diese Worte „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet“.

Stefan Zweig hat später in den Sternstunden der Menschheit diese Augenblicke der Entstehung des großen Werkes meisterhaft beschrieben. Und genau in die Mitte stellt er die berühmte Arie unmittelbar nach dem großen Halleluja, nach dem österlichen Jubelruf das staunende Bekenntnis eines Gebrochenen und Wiedererstandenem: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet und dass er mich einst erweckt am letzten Tag!“

Eine wundervolle Vertonung, tröstlich zu hören, besser noch: nachzusprechen, nachzubeten, wenn auch manchmal nur zögernd, stockend. Es ist kein glatt über die Lippen gehender frommer Spruch. Er wird wohl immer nur als durchlittener, durchkämpfter seine Tiefe und Wahrheit entfalten. Und das allein im Namen dessen, der das Schicksal Hiobs nicht nur erlitten, sondern, der es zu seines Gottes und himmlischen Vaters heilsamem Werk und Zeugnis für alle gemacht hat.

Und so endet unser heutiger kurzer Abschnitt aus dem Hiobbuch: „Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen.“

Gott gebe es.

Amen

Wir empfehlen folgenden Fernsehgottesdienst:
21.3.2021        9.30 Uhr ZDF ‚Wo bleibt der Zorn?‘